Der Deutsche Psychologe Wilhelm Maximilian Wundt wusste noch nichts von Eishockey. Aber er hat Emotionen in drei Dimensionen definiert: Lust und Unlust, Erregung und Beruhigung, Spannung und Lösung. Das passt wunderbar zum Eishockey in Zeiten der Playoffs und zum Halbfinal ZSC Lions gegen den HC Davos.
Emotionen spielen in dieser dritten Partie eine wichtige Rolle. Die tapferen Davoser bringen diese Emotionen ins Spiel. Es ist die einzig richtige Strategie. Sie haben weniger Talent. Eine Chance haben sie nur, wenn sie Emotionen entfachen und so die ZSC Lions vom Spiel ablenken. Also ist es logisch, dass sie Brendan Lemieux auf der Ausländerposition einsetzen. Er würzt das Spiel durch eine gesunde Portion Härte mit Emotionen. Er kann so Unlust und Erregung beim Gegner und Kampfeslust bei seinen Spielkameraden wecken. Cheftrainer Josh Holden hat alles richtig gemacht.
Das Problem: Die Kontrolle dieser Emotionen. Wer Wind sät, muss aufpassen, dass er nicht Sturm erntet. Es ist wohl so: Je stärker der Wille, je grösser die Leidenschaft, desto schwieriger wird es, smart zu sein. Weil smart sein nur mit kühlem Kopf möglich ist. Der HCD hat zehn kleine Strafen und drei Treffer in Unterzahl kassiert: zum 1:2, zum 1:3 und zum 1:5. Keine Frage: zu viele Emotionen. Zu wenig smart. Wind gesät und Sturm geerntet.
Ist daran Lemieux schuld? Hiesse er Bernhard Gut und hätte einen Schweizer Pass, dann wäre er in der Analyse dieses Spiels nur eine Fussnote wert.
Aber er ist Kanadier und beansprucht eine Ausländer-Lizenz. Sein Vater Claude Lemieux war einer der «bösesten», «giftigsten» und erfolgreichsten Playoff-Spieler der NHL-Geschichte. Eine Legende. Der Sohn war in der NHL auch recht «böse», hat aber bei weitem nicht Härtegrad, Kragenweite und Talent des Vaters. Josh Holden hat ihn in der zweiten Halbfinalpartie erstmals in diesem Halbfinal eingesetzt und der bissige Flügel brachte mit einer Prise Härte die Emotionen ins Spiel, die dem HCD am Dienstag geholfen hat, die ZSC Lions 4:3 zu besiegen und die Serie auszugleichen. Er hatte sogar seinen Stock beim 1:0 im Spiel – sein erster Skorerpunkt in der 18. Partie für den HCD. Wind gesät und den Sieg geerntet.
Also sind in der dritten Halbfinalpartie im Zürcher Hockey-Tempel viele Augen auf die Nummer 22 der Davoser gerichtet. Dass er bei einer Prügelei mit Chris Baltisberger in der 38. Minute den furchtlos dazwischen gehenden Linienrichter Dominik Altmann im Faustgefecht seinem Gegenspieler unabsichtlich im Gesicht erwischte, ist dem Zufall und nicht der Bösartigkeit des Kanadiers zuzuschreiben. Aber bei seiner Reputation war es wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung und er musste unter die Dusche. Sehet, da geht er, der Bösewicht. Und da er also bestraft worden ist, geht der Fall – anders als bei Lausanne-Verteidiger Gavin Bayreuther, der bei einem Check gegen den Linienrichter keine Strafe kassiert hatte – direkt auf den Schreibtisch des Einzelrichters. Mehr als eine Sperre von einem Spiel wäre eigentlich unverhältnismässig.
Das Schicksal von Lemieux ist ein wenig symbolisch für den HCD in diesem Spiel: Wille, Leidenschaft, Mut, die richtige Taktik – aber irgendwie wollte es einfach nicht zusammenpassen. Nicht einmal das Glückstor der Saison hat geholfen: Als die Schiedsrichter in der 16. Minute beim Stande von 1:0 eine Strafe gegen Andres Ambühl anzeigen, nehmen die Zürcher ihren Torhüter vom Eis und spielen mit einem sechsten Feldspieler 76 Sekunden lang Powerplay. Dann der fatale Rückpass: Jesper Frödén will Yannick Zehnder von hinter dem Tor aus anspielen, doch der Puck rutscht an allen Zürchern vorbei über das gesamte Eis und landet im verlassenen eigenen Tor zum 1:1. Eishockey als unberechenbares Spiel auf rutschiger Unterlage.
Als Torschütze wird ausgerechnet Andres Ambühl ausgerufen. Er hatte als letzter Davoser den Puck berührt. Aber nicht kontrolliert. Deshalb war das Spiel nicht unterbrochen worden. Der Spieler, gegen den eine Strafe angezeigt wird, erzielt ein Tor. Wahrlich, bemerkenswert.
Womit wir wieder bei den Emotionen sind: Die Zürcher lassen sich durch dieses Missgeschick nicht beunruhigen. Coach Marco Bayer wird nach dem Spiel sagen: «Hinterher können wir das als Schmonzette betrachten…»
Josh Holden gehört zu den grossen Coaches, die nie nach Ausreden suchen, nicht über Pech oder Schiedsrichter klagen und es verstehen, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Er sagt, hart arbeiten (oder in diesem Fall: Emotionen entfachen) genüge nicht: «Wir müssen auch smart sein.»
Vieles spricht dafür, dass es den ZSC Lions etwas leichter fällt, smart zu sein. Weil sie mehr Talent und mit Denis Malgin und Sven Andrighetto zwei offensive Künstler (keine Schillerfalter!) haben, die sich meistens weder provozieren noch einschüchtern lassen.
Rekapitulieren wir: Viele Emotionen. Viele Strafen. Ein «Bösewicht», der eigentlich gar keiner war. Ein kurioses Eigentor, das es so in den Playoffs vielleicht alle Schaltjahre einmal gibt. Das Tor zum entscheidenden 3:1, das die Schiedsrichter auf dem Eis nicht anerkannten und den Puck erst nach intensivem Video-Studium hinter der Linie erkannten. Und dann gilt es auch noch zu erwähnen, dass der HCD ja eigentlich kein Tor erzielt hat und es so unmöglich war, zu gewinnen. Gut, dass es über dieses Spiel viel zu erzählen gibt. So kommen die Davoser drumherum, den Elefanten in der Kabine zu erwähnen.
Der Elefant im Raum (in unserem Beispiel in der HCD-Kabine) bezeichnet ein Problem, das zwar für alle klar erkennbar und bedeutsam ist, aber nicht thematisiert wird. Der Elefant als triviales Beispiel für einen Sachverhalt, der – wie eben ein Elefant im Raum - unmöglich übersehen werden kann. Aber einfach nicht erwähnt werden darf. Unter gar keinen Umständen.
Torhüter Sandro Aeschlimann, sonst einer der Besten seines Faches, ist der unglückliche, tapfere Held des Spiels. Beim 1:0 lässt er den Puck zwischen den Schonern durchrutschen. Beim 2:1 verliert er während des ZSC-Powerplays die Übersicht und kann die Scheibe im Durcheinander vor dem Tor nicht blockieren. Beim 3:1 lässt er den schwarzen Kobold wieder durchrutschen und kann ihn erst hinter der Linie fassen und das 5:1 ist ein haltbarer Schuss in die nahe Ecke. Er hat nur 85,71 Prozent der Schüsse abgewehrt.
Bringen wir es auf den Punkt: Josh Holden kann die perfekte Taktik austüfteln, die Emotionen kontrollieren und auch sonst mag für den HCD alles stimmen: Aber mit einem Torhüter wie Sandro Aeschlimann in diesem dritten Spiel einer war, ist es für den HCD völlig unmöglich, undenkbar und ausgeschlossen, ein Spiel in Zürich zu gewinnen. Punkt.
In Zeiten der Playoffs ist es tabu, den Torhüter zu kritisieren. Das macht kein Coach und das machen in der Regel auch die Chronistinnen und Chronisten nicht. Der Torhüter ist der Elefant im Raum.
Der langen Analyse kurzer Sinn: Der HCD kann noch einmal aufstehen. Aber nur, wenn sein letzter und wichtigster Mann – der Goalie – wieder aufsteht und mehr als 92 Prozent der Pucks abwehrt.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
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Er kann
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